Vom Lebensleid zu psychischen Krankheiten
Spurensuche in der Kulturgeschichte der Psychiatrie: "psychische Krankheiten" sind
kulturelle Konstruktionen, entsprechend auch ihre Begründung in Seele, Gehirn, Gesellschaft
und die Behandlungsvorschläge zwischen Geistheilen und (chemischen, chirurgischen)
Eingriffen in das Gehirn. Welche Annahmen, Vorstellungen, Begriffe, Perspektiven und
Methoden fliessen in das "Wissen" ein? Welche ethische Grundhaltung, Achtung vor der Würde
bestimmen das Handeln? — Psychische Gesundheit (als Funktionstüchtigkeit) und Krankheit
(Dysfunktionalität) sind als Pole eines Kontinuums zu sehen. Die Gefährdung zum Krankwerden
(Disposition) liegt im Verhältnis von Vulnerabilität (Verletzlichkeit) und Resilienz
(Widerstandskraft).
Der Schamane nimmt den Menschen als "begeisterten Leib". Erst als Körper und "Seele" als
getrennte "Naturen" aufgefasst wurden, konnte man von "Seelen-krankheiten" reden. Aus der
Vorstellung "Seele" erwuchs das Konstrukt "Psyche", vorgestellt als integrierte Einheit
personaler Identität (Ich/Selbst) eines Individuums.
Dieser Psyche wurden Funktionen zugeschrieben: Kognitionen, Emotionen ("Affekte" und Triebe),
Bewusstsein mit Ich/Selbst-Bewusstsein. Die Vorstellung eines klaren Wachbewusstseins führte
zur Annahme des Unbewussten. Diese Funktionsbereiche wurden mehr und mehr als eigene Einheiten
(mit eigener Gehirnregion) gesehen. Dies rief die Frage nach ihrer Verbindung (Assoziation)
auf; wo die ausblieb, wurde Spaltung (Dissoziation) angenommen. Die Abtrennung von psychischen
Funktionseinheiten legte die Grundlage für die Krankheitskonstruktion: Störungen des
Wachbewusstseins, der Kognitionen, der Emotionen ("Affektkrankheiten"), der Einheit des
Bewusstseins (Dissoziative Störungen), besonders des personalen Ich/Selbstbewusstseins
(sogenannte Schizophrenien).
Verlag Wissenschaft und Praxis (ISBN 978-3-89673-510-2)