Allgemeine Psychopathologie
Die Aufgaben der allgemeinen Psychopathologie
Psychiatrie will — aus welchen supponierten Motiven auch immer — dem Kranken helfen. Dass sie diesen
guten Willen immer schon in einem rechten Tun erfolgreich verwirklichen könne, wenn sie auch manche
gute Tat vollbringt, kann man leider nicht behaupten. Wir wissen noch zu wenig, wie die vielen
verschiedenen Daseinsnöte, die den Psychiater und klinischen Psychologen angehen, zustande kommen —
und wie wir diese Not wenden, wie wir am besten lindern, heilen, gar vorbeugen können. Je besser wir
erklären und verstehen lernen, umso eher sollte das gelingen. Das setzt voraus, dass wir das Erleben
und Verhalten des Menschen, den wir in seinem lebensgeschichtlichen soziokulturellen Kontext als krank
bezeichnen, möglichst genau erfassen.
Psychopathologie als Erlebnislehre
Der Patient "hat" nicht Symptome, sondern erlebt bestimmte Erfahrungen und verhält sich daher in
beschreibbar von der Gruppennorm abweichende Weise. Nichts von seinem Tun ist schlechthin unsinnig.
Das ist keine wissenschaftliche Aussage, sondern ein Bekenntnis zur Psychopathologie als Erlebnislehre
und Weg zur Therapie. Nur in dieser Einstellung werden wir dem kranken Menschen gerecht.
Deskriptive Psychopathologie als Grundlage der "Psychodynamik"
Beschreibende Psychopathologie ist nicht statische Psychiatrie. Gerade der, der sorgfältig und
selbstkritisch beobachten und beschreiben gelernt hat, wird deutlich erkennen, dass Psychopathologie etwas
unaufhörlich Bewegtes, nichts Starres ist, dass kein Gegensatz zwischen deskriptiver Psychopathologie
und sog. "Psychodynamik" besteht, sondern dass eine saubere deskriptive Psychopathologie die
Grundlage für eine Werdens-Geschichte ist, die sich nicht im Spekulativen verliert. Auch die
kategorisierende Betrachtung hat den Mitteilungsgehalt des beschreibbaren Symptoms im Sinne. Damit ist sie
eine Voraussetzung für die Erforschung eines Individuums in seinem jeweiligen lebensgeschichtlichen
("Situation") und dass heißt immer auch gemeinschaftsabhängigen Werden.
Thieme, Stuttgart (ISBN 313-531-5053)